Säuregehalt
Die wichtigste Eigenschaft von Carbonsäuren, die auch für die Namensgebung verantwortlich ist, ist ihr Säuregehalt. Eine Säure ist eine Verbindung, die ein Wasserstoffion, H+ (auch Proton genannt), an eine andere Verbindung, eine sogenannte Base, abgibt. Carbonsäuren tun dies viel leichter als die meisten anderen Klassen organischer Verbindungen, weshalb man sie als stärkere Säuren bezeichnet, obwohl sie viel schwächer sind als die wichtigsten Mineralsäuren – Schwefelsäure (H2SO4), Salpetersäure (HNO3) und Salzsäure (HCl). Der Grund für den erhöhten Säuregehalt dieser Gruppe von Verbindungen lässt sich am besten durch einen Vergleich ihres Säuregehalts mit dem der Alkohole veranschaulichen, die beide eine -OH-Gruppe enthalten. Alkohole sind in wässriger Lösung neutrale Verbindungen. Wenn ein Alkohol sein Proton abgibt, wird er zu einem negativen Ion, dem so genannten Alkoxid-Ion, RO-. Wenn eine Carbonsäure ihr Proton abgibt, wird sie zu einem negativ geladenen Ion, RCOO-, das als Carboxylat-Ion bezeichnet wird.
Ein Carboxylat-Ion ist viel stabiler als das entsprechende Alkoxid-Ion, weil es Resonanzstrukturen für das Carboxylat-Ion gibt, die seine negative Ladung zerstreuen. Für ein Alkoxid-Ion kann nur eine Struktur gezeichnet werden, für ein Carboxylat-Ion jedoch zwei Strukturen. Wenn für ein Molekül oder ein Ion zwei oder mehr Strukturen gezeichnet werden können, die sich nur in den Positionen der Valenzelektronen unterscheiden, bedeutet dies, dass seine Valenzelektronen delokalisiert oder auf mehr als zwei Atome verteilt sind. Dieses Phänomen wird als Resonanz bezeichnet, und die Strukturen werden als Resonanzformen bezeichnet. Ein Doppelpfeil zeigt an, dass die zwei oder mehr Strukturen durch Resonanz miteinander verbunden sind. Da es zwei Resonanzformen, aber nur ein reales Ion gibt, folgt daraus, dass keine dieser Formen eine genaue Darstellung des tatsächlichen Ions ist. Die reale Struktur enthält Aspekte beider Resonanzstrukturen, dupliziert aber keine davon. Resonanz stabilisiert immer ein Molekül oder ein Ion, auch wenn keine Ladung im Spiel ist. Die Stabilität eines Anions bestimmt die Stärke seiner Muttersäure. Eine Carbonsäure ist daher eine viel stärkere Säure als der entsprechende Alkohol, denn wenn sie ihr Proton verliert, entsteht ein stabileres Ion.
Einige Atome oder Gruppen, die an ein Kohlenstoffatom gebunden sind, ziehen im Vergleich zu einem Wasserstoffatom in derselben Position Elektronen ab. Betrachten wir zum Beispiel Chloressigsäure (Cl-CH2COOH) im Vergleich zu Essigsäure (H-CH2COOH). Da Chlor eine höhere Elektronegativität als Wasserstoff hat, sind die Elektronen in der Cl-C-Bindung weiter vom Kohlenstoff entfernt als die Elektronen in der entsprechenden H-C-Bindung. Daher gilt Chlor als elektronenziehende Gruppe. Dies ist ein Beispiel für den so genannten induktiven Effekt, bei dem ein Substituent die Elektronenverteilung in einer Verbindung beeinflusst. Es gibt eine Reihe solcher Effekte, und Atome oder Gruppen können im Vergleich zu Wasserstoff elektronenziehend oder elektronenabgebend sein. Das Vorhandensein solcher Gruppen in der Nähe der COOH-Gruppe einer Carbonsäure wirkt sich häufig auf den Säuregrad aus. Im Allgemeinen erhöhen elektronenziehende Gruppen den Säuregrad, indem sie die Stabilität des Carboxylat-Ions erhöhen. Dagegen verringern elektronenabgebende Gruppen die Acidität, indem sie das Carboxylat-Ion destabilisieren. Die Methylgruppe, -CH3, gilt beispielsweise allgemein als elektronenabgebend, und Essigsäure, CH3 COOH, ist als Säure etwa zehnmal schwächer als Ameisensäure, HCOOH. Ähnlich ist Chloressigsäure, ClCH2 COOH, bei der das stark elektronenziehende Chlor ein Wasserstoffatom ersetzt, als Säure etwa 100-mal stärker als Essigsäure, und Nitroessigsäure, NO2CH2 COOH, ist sogar noch stärker. (Die NO2-Gruppe ist eine sehr starke elektronenziehende Gruppe.) Eine noch größere Wirkung hat Trichloressigsäure, Cl3CCOOH, deren Säurestärke etwa der von Salzsäure entspricht.