Manchmal schafft eine Technologie, die seit Jahrzehnten im Labor oder in der Klinik schmort, fast über Nacht den Sprung in die breite Masse.
Nehmen wir das Hohlraummagnetron. Der Vorläufer dieser seltsamen Form der Vakuumröhre wurde um 1920 bei General Electric erfunden. Erst 1940 entdeckten britische Wissenschaftler ein Magnetron-Design, das Mikrowellenenergie mit noch nie dagewesener Leistung erzeugen konnte. Diese Entdeckung gab den Anstoß für ein Crash-Programm am Massachusetts Institute of Technology zum Bau von Flugradargeräten, ein Fortschritt, der den Alliierten half, Nazideutschland in Europa zurückzuschlagen. Kaum war der Konflikt beendet, bemerkte ein Raytheon-Ingenieur, dass Mikrowellen auch Schokolade schmelzen können. Die „Radarange“ kam 1947 auf den Markt, und heute findet sich in fast jeder Küche ein Magnetron.
Die nächste alte, aber neue Technologie, die unser Leben durchdringen wird, könnten die so genannten neuronalen Schnittstellen sein. Dank nicht-invasiver Verfahren, die es schon seit Jahrzehnten gibt, wie der Elektroenzephalographie (EEG) und der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI), können Ärzte und Neurowissenschaftler Veränderungen im Gehirn messen, ohne ein Loch in den Schädel zu bohren. Und jetzt werden einige der Probleme, die diese Instrumente schwierig, teuer und schwer zu interpretieren machten, beseitigt, was bedeutet, dass neuronale Schnittstellen plötzlich bei Amazon und Target zu finden sind. Das stellt eine Herausforderung dar, denn die Messung der Hirnaktivität ist nicht so einfach wie die Zubereitung von Mikrowellen-Popcorn. Es stehen enorme datenschutzrechtliche und ethische Fragen auf dem Spiel.
Die Geschichte des in Toronto ansässigen Unternehmens InteraXon, eines 2007 gegründeten Start-ups für Gehirn-Maschine-Schnittstellen, zeigt, wie schnell sich die Dinge ändern. Um zuverlässige Hirnstrommessungen mittels EEG zu erhalten, mussten früher Dutzende von Elektroden auf die Kopfhaut der Testpersonen geklebt werden. Doch InteraXon hat ein tragbares EEG-Gerät mit nur wenigen Elektroden entwickelt, die auf der Stirn und hinter den Ohren aufliegen, und eine Software zur Klassifizierung der gemessenen Gehirnwellen. Niederfrequente „Alpha“-Wellen deuten auf einen entspannten Zustand hin, höherfrequente „Beta“- oder „Gamma“-Wellen auf einen beschäftigten oder konzentrierten Geist.
Die ersten Anwendungen des Unternehmens waren eher skurril. Besucher des Ontario-Pavillons bei den Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver konnten ein Stirnband anlegen und mit ihren Gedanken die Beleuchtung der Niagarafälle und anderer entfernter Wahrzeichen von Ontario steuern. Später baute das Unternehmen gedankengesteuerte Spielautos und Star-Wars-Spiele. „Nach all diesen gedankengesteuerten Entwicklungen sind wir auf eine sehr wichtige Erkenntnis gestoßen“, sagte mir Ariel Garten, Mitbegründer von InteraXon. „Obwohl man Technologie mit dem Gehirn steuern konnte, war die Art und Weise, wie man das tat, nicht sehr effektiv. Ehrlich gesagt, könnte man das Ding viel einfacher mit der Hand drehen.“
Aber 2014 brachte das Unternehmen sein Muse-Stirnband heraus, das inzwischen in der zweiten Version vorliegt: Es ist mit einer Smartphone-App gekoppelt, die den Nutzern hilft, Achtsamkeitsmeditation zu praktizieren. Wenn die Software Gehirnwellen erkennt, die auf einen abschweifenden Geist hindeuten, hören die Träger ein Feedback in Form von plätschernden Wellen oder Donnern. Diese Geräusche fordern sie auf, ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Atem zu richten. „Es ist wie eine Wiederholung im Fitnessstudio“, sagt Garten. „Man sagt sich: ‚Okay, ich habe diesen Muskel, der sich Aufmerksamkeit nennt, und ich werde ihn stärken.'“
Aber es ist eine Sache, EEG-Daten zur Diagnose von Schlafstörungen oder Epilepsie zu verwenden; es ist etwas ganz anderes, den Gehirnzustand von Millionen gesunder Verbraucher zu überwachen. Deshalb hat Garten auch das Center for Responsible Brainwave Technologies gegründet, das Verletzungen der Privatsphäre, übertriebene wissenschaftliche Behauptungen oder andere Fehltritte verhindern soll, die die aufstrebende Industrie der neuronalen Schnittstellen zum Entgleisen bringen könnten. „Das Ziel ist es, eine Reihe von Standards zu schaffen, um sicherzustellen, dass die Daten aller jederzeit sicher sind und die Technologie angemessen genutzt wird“, sagt Garten.
Mary Lou Jepsen ist mit an Bord. Sie ist eine Hardware-Ingenieurin aus dem Silicon Valley, die vor kurzem Openwater gegründet hat, ein Start-up-Unternehmen, das ein Gerät in Form einer Skimütze entwickelt, das mit Hilfe von Infrarotlicht, das in den Schädel eindringt, den Blutfluss misst – ein Zeichen dafür, welche Gehirnbereiche am stärksten arbeiten. Jepsen konzipierte die Technologie als kostengünstigen Ersatz für fMRI zur Diagnose von Hirnverletzungen oder neurodegenerativen Erkrankungen. Aber eines Tages, sagt sie, könnte sie auch zum Gedankenlesen eingesetzt werden.
Das könnte ein Segen für Menschen mit Behinderungen sein, aber es ist auch ein Alptraum für den Datenschutz. „Ich denke, dass die Szenarien des Gedankenlesens noch in weiter Ferne liegen, aber der Grund, warum ich sie so früh anspreche, ist, dass sie tiefgreifende ethische und rechtliche Auswirkungen haben“, sagt Jepsen. „Wir können nur dann etwas freigeben, wenn wir definieren können, was es bedeutet, verantwortungsbewusst zu sein.“
Wie bei so vielen anderen Technologien scheinen auch die neuronalen Schnittstellen dazu bestimmt zu sein, die Verbraucher zu erreichen, bevor sie ganz ausgereift sind. Bis dahin sind sie am besten mit einer gesunden Portion Vorsicht zu genießen.