Schmerz

Schmerztheorien

Das medizinische Verständnis der physiologischen Grundlagen des Schmerzes ist eine vergleichsweise junge Entwicklung, die erst im 19. Jahrhundert ernsthaft aufkam. Damals erkannten verschiedene britische, deutsche und französische Ärzte das Problem der chronischen „Schmerzen ohne Läsion“ und führten sie auf eine Funktionsstörung oder anhaltende Reizung des Nervensystems zurück. Der deutsche Physiologe und vergleichende Anatom Johannes Peter Müller stellte mit seinem Konzept des Gemeingefühls oder der „Zönästhesie“, d. h. der Fähigkeit des Menschen, innere Empfindungen richtig wahrzunehmen, eine weitere kreative Ätiologie für Schmerzen vor. Der amerikanische Arzt und Autor S. Weir Mitchell beobachtete Soldaten des Bürgerkriegs, die an Kausalgie (ständiger brennender Schmerz; später als komplexes regionales Schmerzsyndrom bekannt), Phantomschmerzen und anderen schmerzhaften Zuständen litten, lange nachdem ihre ursprünglichen Wunden verheilt waren. Trotz des seltsamen und oft feindseligen Verhaltens seiner Patienten war Mitchell von der Realität ihres körperlichen Leidens überzeugt.

Am Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Entwicklung spezifischer diagnostischer Tests und die Identifizierung spezifischer Schmerzzeichen die Praxis der Neurologie neu zu definieren und ließen wenig Raum für chronische Schmerzen, die sich nicht durch das Fehlen anderer physiologischer Symptome erklären ließen. Gleichzeitig entdeckten die Psychiater und die aufkommende Psychoanalyse, dass „hysterische“ Schmerzen potenzielle Einblicke in mentale und emotionale Krankheiten boten. Die Beiträge von Persönlichkeiten wie dem englischen Physiologen Sir Charles Scott Sherrington unterstützten das Konzept der Spezifität, demzufolge „echter“ Schmerz eine direkte Eins-zu-eins-Reaktion auf einen bestimmten schädlichen Reiz ist. Sherrington führte den Begriff Nozizeption ein, um die Schmerzreaktion auf solche Reize zu beschreiben. Die Spezifitätstheorie besagte, dass Personen, die über Schmerzen ohne offensichtliche Ursache berichteten, Wahnvorstellungen hatten, neurotisch besessen waren oder simulierten (dies war häufig die Schlussfolgerung von Militärärzten oder Ärzten, die Fälle von Arbeitsunfällen behandelten). Eine andere Theorie, die damals bei Psychologen sehr beliebt war, aber bald darauf wieder aufgegeben wurde, war die Theorie des intensiven Schmerzes, die den Schmerz als einen emotionalen Zustand betrachtete, der durch ungewöhnlich intensive Reize ausgelöst wird.

In den 1890er Jahren unterstützte der deutsche Neurologe Alfred Goldscheider Sherringtons Auffassung, dass das zentrale Nervensystem Eingaben aus der Peripherie integriert. Goldscheider schlug vor, dass Schmerz ein Ergebnis der Erkennung von räumlichen und zeitlichen Empfindungsmustern durch das Gehirn ist. Der französische Chirurg René Leriche, der während des Ersten Weltkriegs mit verletzten Soldaten arbeitete, schlug vor, dass eine Nervenverletzung, die die Myelinscheide um die Sympathikusnerven (die Nerven, die an der Kampf-oder-Flucht-Reaktion beteiligt sind) beschädigt, zu Schmerzempfindungen als Reaktion auf normale Reize und interne physiologische Aktivitäten führen könnte. Der amerikanische Neurologe William K. Livingston, der in den 1930er Jahren mit Patienten mit Arbeitsunfällen arbeitete, stellte eine Rückkopplungsschleife im Nervensystem dar, die er als „Teufelskreis“ bezeichnete. Livingston stellte die Theorie auf, dass starke, anhaltende Schmerzen funktionelle und organische Veränderungen im Nervensystem hervorrufen und so zu einem chronischen Schmerzzustand führen.

Die verschiedenen Schmerztheorien wurden jedoch bis zum Zweiten Weltkrieg weitgehend ignoriert, als organisierte Teams von Klinikern begannen, eine große Zahl von Menschen mit ähnlichen Verletzungen zu beobachten und zu behandeln. In den 1950er Jahren stellte der amerikanische Anästhesist Henry K. Beecher aufgrund seiner Erfahrungen bei der Behandlung von zivilen Patienten und Kriegsopfern fest, dass Soldaten mit schweren Wunden häufig viel weniger Schmerzen zu haben schienen als zivile chirurgische Patienten. Beecher kam zu dem Schluss, dass Schmerzen das Ergebnis einer Verschmelzung von körperlichen Empfindungen mit einer kognitiven und emotionalen „Reaktionskomponente“ sind. Der psychische Kontext des Schmerzes ist also wichtig. Für den chirurgischen Patienten bedeutete Schmerz eine Unterbrechung des normalen Lebens und die Befürchtung einer schweren Krankheit, während Schmerz für den verwundeten Soldaten eine Befreiung vom Schlachtfeld und eine erhöhte Überlebenschance bedeutete. Daher konnten die Annahmen der Spezifitätstheorie, die auf Laborexperimenten beruhten, bei denen die Reaktionskomponente relativ neutral war, nicht auf das Verständnis des klinischen Schmerzes übertragen werden. Beechers Schlussfolgerungen wurden durch die Arbeiten des amerikanischen Anästhesisten John Bonica gestützt, der in seinem Buch The Management of Pain (1953) die Auffassung vertrat, dass klinische Schmerzen sowohl physiologische als auch psychologische Komponenten enthalten.

Der niederländische Neurochirurg Willem Noordenbos erweiterte in seinem kurzen, aber klassischen Buch Pain (1959) die Schmerztheorie als eine Integration mehrerer Eingänge in das Nervensystem. Noordenbos‘ Ideen fanden bei dem kanadischen Psychologen Ronald Melzack und dem britischen Neurowissenschaftler Patrick David Wall Anklang. Melzack und Wall kombinierten die Ideen von Goldscheider, Livingston und Noordenbos mit den verfügbaren Forschungsergebnissen und schlugen 1965 die so genannte Gate-Control-Theorie des Schmerzes vor. Nach der Gate-Control-Theorie hängt die Schmerzwahrnehmung von einem neuronalen Mechanismus in der Substantia gelatinosa-Schicht des Dorsalhorns des Rückenmarks ab. Der Mechanismus fungiert als synaptisches Tor, das die Schmerzempfindung von myelinisierten und unmyelinisierten peripheren Nervenfasern und die Aktivität von inhibitorischen Neuronen moduliert. So kann die Stimulation nahe gelegener Nervenenden die Nervenfasern hemmen, die Schmerzsignale weiterleiten, was die Linderung erklärt, die eintritt, wenn eine verletzte Stelle durch Druck oder Reibung stimuliert wird. Obwohl sich die Theorie selbst als falsch erwies, inspirierte und forderte die Implikation, dass Labor- und klinische Beobachtungen zusammen die physiologische Grundlage eines komplexen neuronalen Integrationsmechanismus für die Schmerzwahrnehmung aufzeigen könnten, eine junge Generation von Forschern heraus.

Im Jahr 1973 organisierte Bonica, ausgehend von dem durch Wall und Melzack ausgelösten Aufschwung des Interesses an Schmerzen, ein Treffen von interdisziplinären Schmerzforschern und Klinikern. Unter der Leitung von Bonica entstand auf dieser Konferenz in den Vereinigten Staaten eine interdisziplinäre Organisation, die International Association for the Study of Pain (IASP), und eine neue Zeitschrift mit dem Titel Pain, die zunächst von Wall herausgegeben wurde. Die Gründung der IASP und die Herausgabe der Zeitschrift markierten die Entstehung der Schmerzforschung als Fachgebiet.

In den folgenden Jahrzehnten wurde die Forschung zum Problem des Schmerzes erheblich ausgeweitet. Aus dieser Arbeit gingen zwei wichtige Erkenntnisse hervor. Erstens wurde festgestellt, dass starke Schmerzen aufgrund einer Verletzung oder eines anderen Reizes, wenn sie über einen gewissen Zeitraum andauern, die Neurochemie des zentralen Nervensystems verändern, es dadurch sensibilisieren und neuronale Veränderungen hervorrufen, die auch nach Beseitigung des ursprünglichen Reizes anhalten. Dieser Prozess wird von der betroffenen Person als chronischer Schmerz wahrgenommen. Die Beteiligung neuronaler Veränderungen im Zentralnervensystem an der Entstehung chronischer Schmerzen wurde in mehreren Studien nachgewiesen. So wiesen 1989 der amerikanische Anästhesist Gary J. Bennett und der chinesische Wissenschaftler Xie Yikuan den dem Phänomen zugrundeliegenden neuronalen Mechanismus bei Ratten mit locker um den Ischiasnerv gelegten konstriktiven Ligaturen nach. Im Jahr 2002 berichteten die chinesische Neurowissenschaftlerin Min Zhuo und ihre Kollegen über die Identifizierung von zwei Enzymen, Adenylylzyklase Typ 1 und 8, im Vorderhirn von Mäusen, die eine wichtige Rolle bei der Sensibilisierung des zentralen Nervensystems für Schmerzreize spielen.

Die zweite Erkenntnis, die sich herauskristallisierte, war, dass sich die Schmerzwahrnehmung und -reaktion je nach Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit sowie je nach Lernen und Erfahrung unterscheiden. Frauen scheinen Schmerzen häufiger und mit größerem emotionalen Stress zu erleiden als Männer, aber es gibt Hinweise darauf, dass Frauen mit starken Schmerzen besser umgehen können als Männer. Afroamerikaner sind anfälliger für chronische Schmerzen und weisen ein höheres Maß an Behinderung auf als weiße Patienten. Diese Beobachtungen wurden durch die neurochemische Forschung bestätigt. So berichtete 1996 ein Forscherteam unter der Leitung des amerikanischen Neurowissenschaftlers Jon D. Levine, dass verschiedene Arten von Opioid-Medikamenten bei Frauen und Männern ein unterschiedliches Maß an Schmerzlinderung bewirken. Andere, an Tieren durchgeführte Forschungen deuten darauf hin, dass Schmerzerfahrungen in der frühen Kindheit neuronale Veränderungen auf molekularer Ebene hervorrufen können, die die Schmerzreaktion eines Menschen im Erwachsenenalter beeinflussen. Eine wichtige Schlussfolgerung aus diesen Studien ist, dass keine zwei Personen Schmerzen auf die gleiche Weise empfinden.

Marcia L. Meldrum Die Herausgeber der Encyclopaedia Britannica

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