Psychiater und andere Kliniker im Bereich der psychischen Gesundheit haben eine ausgeprägte Anfälligkeit für stellvertretende Traumata durch wiederholte Exposition gegenüber aversiven Details der traumatischen Erfahrungen von Patienten. Das Verständnis von Trauma hat sich weiterentwickelt, seit der Kampfstress erstmals bei Soldaten beobachtet wurde, die aus dem Krieg zurückkehrten, und das Aufkommen der #MeToo-Bewegung das Bewusstsein für die Prävalenz von Traumata in der Allgemeinbevölkerung schärfte. Die Anerkennung eines breiten Spektrums traumatischer Erfahrungen – körperliche oder sexuelle Übergriffe, Autounfälle, lebensbedrohliche Krankheiten, unerwarteter Tod oder schwere Verletzungen von wichtigen Mitmenschen, Miterleben von schwerem menschlichem Leid, Naturkatastrophen, Krieg, Terrorismus – hat Auswirkungen auf das Verständnis der Anfälligkeit für stellvertretende Traumata in der Praxis eines Klinikers.
Einfühlungsvermögen bei der Validierung des Leidens eines anderen macht den Kliniker anfällig. Ein stellvertretendes Trauma bezieht sich auf negative Veränderungen in der Sicht des Klinikers auf sich selbst, andere und die Welt, die sich aus der wiederholten empathischen Auseinandersetzung mit den traumabezogenen Gedanken, Erinnerungen und Emotionen der Patienten ergeben.1 Dieses Konstrukt basiert auf der konstruktivistischen Selbstentwicklungstheorie (CSDT) der Persönlichkeit, die Trauma als eine Störung der menschlichen Entwicklung und Anpassung konzeptualisiert, insbesondere als Störung der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse nach Sicherheit, Wertschätzung, Vertrauen, Kontrolle, Unabhängigkeit und Intimität. Aus der CSDT-Perspektive sind die Bemühungen des Klinikers, sich an die traumatischen Erinnerungen und emotionalen Reaktionen des Patienten anzupassen, gestört. Das empathische Zuhören einer Geschichte nach der anderen über menschliches Leid stellt die tief verwurzelten Überzeugungen, Annahmen und Erwartungen des Klinikers in Frage, was sich in aufdringlichen Gedanken und Bildern sowie anderen emotionalen und verhaltensbezogenen Manifestationen äußern kann.2
Überschneidende Konzepte zur Auswirkung auf die Arbeit: Burnout, Mitgefühlsmüdigkeit, stellvertretendes Trauma
In der Fachwelt besteht Konsens darüber, dass die sekundäre Exposition gegenüber dem Trauma von Patienten die Qualität der Pflege und das berufliche Wohlbefinden negativ beeinflussen kann. Die sich überschneidenden Theorien und Konstrukte werden jedoch von den Dienstleistern im Allgemeinen nicht gut verstanden. Bei der Durchsicht der Literatur wurden am häufigsten die Begriffe sekundärer traumatischer Stress, Mitleidsmüdigkeit und Burnout synonym verwendet.
Die Mitleidsmüdigkeit wurde ursprünglich als sekundäres traumatisches Stresssyndrom bezeichnet, das bei Pflegern und Familienangehörigen von Traumaüberlebenden beobachtet wurde und Symptome einer PTBS, jedoch in geringerer Intensität, widerspiegelt.3 Der von Charles Figley geprägte Begriff Mitleidsmüdigkeit gilt als weniger stigmatisierende Charakterisierung als sekundärer traumatischer Stress. Definiert als empathische Belastung und allgemeine Erschöpfung, die aus der Betreuung von Menschen in Not resultieren, wird Mitgefühlsermüdung am häufigsten mit helfenden Berufen wie Ersthelfern, Krankenschwestern, Ärzten und Katastrophenhelfern in Verbindung gebracht.4 Ähnlich wie beim stellvertretenden Trauma geht es dabei um empathisches Engagement und sekundäre Traumaexposition, die sich als PTBS-ähnliche Symptome zeigen können. Im Gegensatz zum stellvertretenden Trauma können sich die Symptome jedoch auch ohne kumulative sekundäre Traumaexposition manifestieren, und die Mitleidsermüdung ist nicht mit kognitiven Störungen verbunden.
Im Gegensatz zum stellvertretenden Trauma sind sowohl die Mitleidsermüdung als auch das Burnout nicht spezifisch für Kliniker, die mit Traumaüberlebenden arbeiten, aber alle drei Konstrukte beschreiben Manifestationen emotionaler und körperlicher Erschöpfung. Burnout ist definiert als ein anhaltender Zustand der Erschöpfung, des Zynismus und der Ineffizienz als Folge von arbeitsbedingtem Stress.5 Der zentrale Bereich von Burnout ist die emotionale Erschöpfung aufgrund hoher Arbeitsanforderungen und äußert sich oft in häufigen Fehlzeiten, chronischem Zuspätkommen und unzureichender Leistung bei klinischen und administrativen Aufgaben.
Ist das stellvertretende Trauma eine spezifische Form von Burnout?
Das stellvertretende Trauma ist das einzige Konstrukt, das speziell eine kumulative, lang anhaltende Auswirkung auf die persönlichen Überzeugungen und die Weltsicht von Klinikern beschreibt. Bei näherer Betrachtung beschreiben jedoch zwei der drei Bereiche von Burnout – Zynismus oder Depersonalisierung und vermindertes Gefühl der Leistung oder Ineffizienz – Veränderungen in Kognition, Emotion und Verhalten. Vikarielles Trauma und Burnout werden als konzeptionell unterschiedlich betrachtet, da man davon ausgeht, dass die mit Burnout verbundenen kognitiven Störungen auf die Arbeitsbedingungen beschränkt sind, während die Auswirkungen des vikariellen Traumas ein breiteres Spektrum abdecken. Es gibt mehr polemische Argumente über die sich überschneidenden Konzepte als Belege in der Literatur, die diese Annahme unterstützen. Die in den letzten Jahren gesammelte Literatur über Burnout könnte den Weg zu konzeptioneller Klarheit und bedeutenden Auswirkungen für das Management weisen.
Sicherheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz
Der Kongress schuf die Occupational Safety and Health Administration (OSHA) unter der Schirmherrschaft des Arbeitsministeriums, um die Sicherheit am Arbeitsplatz zu gewährleisten, indem gefährliche Bedingungen, die zu Krankheiten und Verletzungen der Arbeitnehmer führen können, reduziert werden. Die Maßnahmen der OSHA zielen darauf ab, das Arbeitsumfeld so zu gestalten, dass arbeitsplatzbedingte Risiken durch physische, biologische, chemische, ergonomische und psychosoziale Gefahren sowie stressige Arbeitssituationen minimiert werden.6
Erfahrungsbedingte Traumata sind eine psychologische Gefahr für psychiatrische Kliniker, und sichere Arbeitsbedingungen sollten Bemühungen zur Abschwächung der Auswirkungen von sekundären Traumata aufzeigen. Im Jahr 2013 überarbeitete die American Psychiatric Association die Diagnosekriterien für PTBS im DSM-5 und fügte „wiederholte oder extreme indirekte Exposition gegenüber aversiven Details eines traumatischen Ereignisses“ als qualifizierenden Stressor hinzu, um die Kriterien für die Diagnose einer PTBS zu erfüllen. Dieses Kriterium untermauert die Behauptung, dass die sekundäre Traumaexposition ein berufsbedingtes Risiko darstellt, und deutet darauf hin, dass sich ein stellvertretendes Trauma und ein Burnout zu einer PTBS entwickeln können, wenn sie nicht behandelt werden.
Studien haben gezeigt, dass die Integration von Arbeitsschutz- und Wellness-Programmen bei der Verringerung chronischer Erkrankungen wirksamer ist.7 Wellness- und Selbstpflegepraktiken reduzieren individuelle Risikofaktoren, während Arbeitsschutz arbeitsbezogene Risikofaktoren verringert. Beispiele für Wellness-Programme sind Raucherentwöhnung, Gewichtskontrolle, gesunde Ernährung, körperliche Aktivität, Grippeimpfung, Meditation und Achtsamkeit. Die Kombination von Wellness-Praktiken und psychologischer Sicherheit am Arbeitsplatz für Kliniker ist ein umfassender Ansatz für das Risikomanagement, um stellvertretenden Traumata und Burnout vorzubeugen und die Widerstandsfähigkeit zu fördern.
Sinnvolle Maßnahmen zur Förderung der Widerstandsfähigkeit und zur Vorbeugung gegen stellvertretende Traumata und Burnout
Integrieren Sie die Aufklärung über stellvertretende Traumata und die Ausbildung in den Lehrplan
Ausbildungsprogramme, Praktika/Praktika können einen primären Präventionsansatz verfolgen, indem sie stellvertretende Traumata und Burnout in den Lehrplan integrieren. Ein Kurs über Trauma und PTBS ist nicht vollständig, wenn nicht auch das stellvertretende Trauma gelehrt wird, und ein Forum über Burnout ohne Diskussion des stellvertretenden Traumas ist ein Versäumnis. FEMA und SAMHSA haben die Notwendigkeit erkannt, die negativen Auswirkungen der Arbeit im Katastrophenfall auf die psychische Gesundheit besser zu verstehen, indem sie vor dem Einsatz Schulungen und Unterstützungsdienste zu den Themen Mitgefühlsmüdigkeit, sekundärer traumatischer Stress und stellvertretendes Trauma vorschreiben.8
Screening und Selbsteinschätzung
Screening ist eine sekundäre Präventionsstrategie, und viele Arbeitgeber führen ein Screening auf Stress am Arbeitsplatz durch und bieten gegebenenfalls Gesundheitscoaching, Stressmanagement und ähnliche Programme an.9 Forensische Mitarbeiter, die auf massive Katastrophen reagieren, unterziehen sich einem Screening auf stressbedingte Störungen, um das Auftreten negativer psychischer Folgen zu überwachen.10 In ähnlicher Weise schärft das Angebot von Selbsteinschätzungs- und Screening-Instrumenten für stellvertretende Traumata das Bewusstsein für persönliche Stärken und Anfälligkeiten und schafft eine Ausgangsbasis für Symptome, die im Laufe der Zeit überwacht werden können.
Es gibt eine Reihe von standardisierten Instrumenten, mit denen Symptome stellvertretender Traumata bewertet werden können (Tabelle). Die meisten dieser standardisierten Instrumente wurden entwickelt, um andere Konzepte zur Beeinflussung der Arbeit zu messen, und sind nicht psychometrisch validiert worden, um stellvertretende Traumata zu bewerten. Sie wurden jedoch für Forschungszwecke angepasst und als Screening-Instrumente für stellvertretende Traumata akzeptiert. Sie sind nicht als Diagnoseinstrumente gedacht. Vielmehr können diese Instrumente dazu verwendet werden, Veränderungen der Symptomatik im Langzeitverlauf zu beobachten.
Selbstverwaltungsinstrumente, die elektronisch verfügbar sind, verbessern den Zugang und die Privatsphäre und ermutigen das Personal zur Teilnahme.
Soziale Unterstützung, sowohl persönlich als auch beruflich, ist ein Schutzfaktor und wurde mit einem verringerten Risiko für ein stellvertretendes Trauma in Verbindung gebracht. Es hat sich gezeigt, dass die Beratung mit Kollegen und Gleichaltrigen das Gefühl der Isolation verringert und das Gefühl der Wirksamkeit erhöht.4,11 Die Rolle von Managern und Vorgesetzten ist von entscheidender Bedeutung, um die Unterstützung der Mitarbeiter zu verbessern. Vorgesetzte können durch Einzelsupervision Unterstützung für schwierige Fälle bieten und die Fallzahlen verwalten, indem sie ein Gleichgewicht zwischen dem Umfang und der Komplexität der Traumapatienten für jeden Kliniker sicherstellen. Die Forschung hat einen Zusammenhang zwischen einer hohen Fallzahl von Traumaopfern und einem erhöhten Risiko von Symptomen eines stellvertretenden Traumas aufgezeigt.12-14 Supervisoren können Mitarbeiter auch bei der Entwicklung und Umsetzung von Selbsthilfeplänen unterstützen. Eine Umfrage unter Therapeuten und Krankenhausmitarbeitern ergab, dass die Mehrheit zwar glaubte, dass Selbstfürsorgestrategien das Risiko eines stellvertretenden Traumas verringern können, aber nur sehr wenige berichteten, dass sie diese Strategien tatsächlich anwenden.
Forschungen haben einen Zusammenhang zwischen einer hohen Fallzahl von Traumaopfern und einem erhöhten Risiko von Symptomen eines stellvertretenden Traumas aufgezeigt.12-14 Führungskräfte können die Einzelsupervision nutzen, um Unterstützung für schwierige Fälle zu bieten und die Fallzahl zu verwalten, indem sie ein Gleichgewicht zwischen dem Umfang und der Komplexität der Traumapatienten für jeden Kliniker sicherstellen. Supervisoren können das Personal auch bei der Entwicklung und Umsetzung von Selbstfürsorgeplänen unterstützen. Eine Umfrage unter Therapeuten und Krankenhausmitarbeitern ergab, dass die Mehrheit der Befragten zwar glaubt, dass Selbstfürsorgestrategien das Risiko eines stellvertretenden Traumas verringern können, doch nur sehr wenige gaben an, diese Strategien tatsächlich zu praktizieren.15
Eine unterstützende Organisationskultur, die Resilienz aufbaut
Primäre Präventionsstrategien, die Resilienz aufbauen, beginnen mit der Abstimmung der Organisationswerte auf die Ziele und Werte des Einzelnen. Diese Werte festigen eine Kultur der starken Kommunikation, der ethischen Managementpraktiken und der sichtbaren Unterstützung durch die Führung.9 Die Einbeziehung des beruflichen Wohlbefindens in die Mission und die Vision der Organisation und die Annahme des Wertes eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen persönlichem, familiärem und beruflichem Leben sind grundlegend für Verhaltensweisen, die die Resilienz am Arbeitsplatz fördern.
Bekanntmachungen:
Dr. Quitangon ist klinische Assistenzprofessorin für Psychiatrie an der New York University School of Medicine und medizinische Leiterin des Community Healthcare Network in New York, NY. Dr. Quitangon berichtet, dass sie Tantiemen von Routledge für ihr Buch Vicarious Trauma and Disaster Mental Health: Understanding Risks and Promoting Resilience.
1. McCann IL, Pearlman LA. Vicarious traumatization: a framework for understanding the psychological effects of working with victims. J Trauma Stress. 1990;3:131-149.
2. Evces MR. What is vicarious trauma? Quitangon G, Evces MR, Eds. Vicarious Trauma and Disaster Mental Health: Understanding Risks and Promoting Resilience. New York, NY: Routledge; 2015.
3. Figley CR, Kleber RJ. Beyond the „Victim“: Secondary Traumatic Stress. New York: Plenum Press; 1995.
4. Figley CR, Ed. Compassion Fatigue: Coping With Secondary Traumatic Stress Disorder in Those Who Treat the Traumatized. New York, NY: Brunner/Mazel; 1995.
5. Maslach C, Schaufeli WB, Leiter MP. Job burnout. Ann Rev Psychol. 2001;52:397-422.
6. Levy BS, Wegman D. Occupational Health: Erkennen und Vorbeugen von arbeitsbedingten Krankheiten und Verletzungen. Philadelphia, PA: Lippincott, Williams and Wilkins; 2000.
7. National Institute for Occupational Safety and Health. The Research Compendium: The NIOSH Total Worker Health Program, Seminal Research Papers. 2012. www.cdc.gov/niosh/docs/2012-146/. Accessed April 3, 2019.
8. Naturale A. How do we understand disaster-related vicarious trauma, secondary traumatic stress and compassion fatigue? Quitangon G, Evces MR, Eds. Vicarious Trauma and Disaster Mental Health: Understanding Risks and Promoting Resilience. New York, NY: Routledge; 2015.
9. Spangler NW. Employer Practices for Addressing Stress and Building Resilience. Arlington, VA: Partnership for Workplace Mental Health. 2013. www.workplacementalhealth.org. Accessed April 3, 2019.
10. Brondolo E, Wellington R, Brady N, et al. Mechanism and strategies for preventing post-traumatic stress disorder in forensic workers responding to mass fatality incidents. J Foren Legal Med. 2008;15:78-88.
11. Pearlman LA, Saakvitne KW. Trauma and the therapist: countertransference and vicarious traumatization in psychotherapy with incest survivors. New York: WW Norton & Co; 1995.
12. Brady JL, Guy JD, Poelstra PL, Browkaw B. Vicarious traumatization, spirituality, and the treatment of sexual abuse survivors: a national survey of women psychotherapists. Prof Psychol Res Pract. 1999;30:386-393.
13. Creamer TL, Liddle BJ. Secondary traumatic stress among disaster mental health workers responding to the September 11 attacks. J Trauma Stress. 2005;18:89-96.
14. Kassam-Adams N. The risks of treating sexual trauma: Stress und sekundäre Traumata bei Psychotherapeuten. Stamm BH, Ed. Secondary Traumatic Stress: Self-Care Issues for Clinicians, Researchers, and Educators, 2nd ed. Baltimore: Sidran Press; 1999.
15. Bober T, Regehr C. Strategies for reducing secondary or vicarious trauma: do they work? Brief Treat Crisis Inter. 2006;6:1-9.
16. Horowitz MJ, Wilner M, Alverez W. Impact of event scale: a measure of subjective stress. Psychosom Med. 1979;41:209-218.
17. Stamm BH. The Concise ProQol Manual, 2nd ed. Pocatello, ID: ProQOL.org; 2010.
18. Bride B, Robinson MR, Yegidis B, Figley CR. Development and validation of the Secondary Traumatic Stress Scale. Res Soc Work Prac. 2004;14:27035.
19. Pearlman LA. Psychometric review of TSI Belief Scale, Revision L. BH Stamm, Ed. Measurement of Stress, Trauma, and Adaptation. Lutherville, MD: Sidran Press; 1996: 415-417.1996.
20. Pearlman LA. Trauma and Attachment Belief Scale. Los Angeles, CA: Western Psychological Services; 2003.