Vor etwa 10 Jahren begann ich mich für eine bestimmte Gruppe von Kindern zu interessieren. Viele von ihnen hatten ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS oder ADS) und einige hatten andere Lern- oder Entwicklungsprobleme. Alle hatten eines gemeinsam: Sie hatten Probleme mit der Verarbeitungsgeschwindigkeit.
Die Verarbeitungsgeschwindigkeit ist die Zeit, die wir brauchen, um Informationen aufzunehmen, sie zu verarbeiten und darauf zu reagieren. Dabei kann es sich um visuelle, verbale oder motorische Informationen handeln. Man kann sie auch so definieren, dass sie die Zeit ist, die für eine intellektuelle Aufgabe benötigt wird, oder die Menge an Arbeit, die in einem bestimmten Zeitraum erledigt werden kann.
Da wir in unserer Kultur so viel Wert darauf legen, Dinge schnell zu erledigen, ist es schwer, mit einem Nervensystem zu leben, das mehr Zeit braucht, um Informationen zu verarbeiten. Bei Kindern mit einer langsamen Verarbeitungsgeschwindigkeit (SPS) wird in der Regel angenommen, dass es ihnen an Intelligenz mangelt, aber das ist nicht der Fall.
Meine Forschungen zeigen, dass Probleme mit der Verarbeitungsgeschwindigkeit viele akademische, verhaltensbezogene und emotionale Schwierigkeiten betreffen, wobei die größte betroffene Gruppe Kinder mit ADHS sind. Außerdem zeigt die Forschung, dass 61 Prozent der Kinder mit langsamer Verarbeitungsgeschwindigkeit die Kriterien für eine ADHS-Diagnose erfüllen. Weitere Informationen, die kürzlich aus meinem SPS-Labor hervorgegangen sind, sind:
1. Bei Jungen werden Defizite in der Verarbeitungsgeschwindigkeit häufiger diagnostiziert als bei Mädchen.
2. Soziale Schwierigkeiten treten bei etwa einem Drittel der Kinder auf, wahrscheinlich weil soziale Beziehungen von unserer Fähigkeit abhängen, schnell auf visuelle und verbale Informationen zu reagieren.
3. Sprachliche Beeinträchtigungen wurden bei etwa 40 Prozent unserer Gruppe festgestellt, möglicherweise weil viele Kinder mit Lese- und sprachbasierten Lernschwierigkeiten auch Defizite in der Verarbeitungsgeschwindigkeit haben.
4. Die meisten Kinder mit einer langsamen Verarbeitungsgeschwindigkeit scheinen nicht aus ihren Symptomen herauszuwachsen, und das gilt besonders für Jungen.
5. Ein Defizit in der Verarbeitungsgeschwindigkeit ist nicht dasselbe wie ADHS, aber Eltern von Kindern mit ADHS und SPS berichten oft, dass Schwächen in der Verarbeitungsgeschwindigkeit die problematischsten Symptome sind. Sie berichten, dass das Etikett ADHS die Unruhe, den Aufruhr und das Trauma, das durch die Unfähigkeit ihres Kindes entsteht, Arbeiten rechtzeitig abzuschließen, nicht vollständig erfasst.
Hat Ihr Kind eine langsame Verarbeitungsgeschwindigkeit?
Die Defizite in der Verarbeitungsgeschwindigkeit sollten durch eine formale Beurteilung durch einen Fachmann, z. B. einen Psychologen, bewertet werden. Der Psychologe wird eine Reihe von Tests durchführen, um die sprachlichen, kognitiven, akademischen, Gedächtnis- und Exekutivfunktionen zu bewerten. Dies kann durch die örtliche öffentliche Schule oder einen unabhängigen Gutachter erfolgen.
Sie sollten sicherstellen, dass die Bewertung auch Messungen der Verarbeitungsgeschwindigkeit und andere zeitlich begrenzte Tests umfasst. Das gebräuchlichste Maß für die einfache nonverbale Verarbeitungsgeschwindigkeit ist der Faktor Verarbeitungsgeschwindigkeit des WISC-V, insbesondere der Untertest Kodierung. Der Gutachter wird auch feststellen, ob es andere zugrundeliegende Probleme gibt, die behandelt werden können, wie ADHS, Lernbehinderungen, Ängste oder extreme Traurigkeit.
Ein effektiver Umgang mit Defiziten in der Verarbeitungsgeschwindigkeit erfordert zunächst ein Verständnis dafür, was es ist. Sobald Sie verstehen, dass es nicht in der Macht Ihres Kindes liegt, der Schnellste in der Familie oder in seiner Klasse zu sein, und sobald Sie ein besseres Gefühl dafür haben, warum Ihr Kind sich so verhält, wie es sich verhält, werden die Strategien, ihm zu helfen, klarer. In einigen Fällen kann allein das Verstehen der Defizite Ihres Kindes zu Verbesserungen in seinem Leben und in seiner Beziehung zu Ihnen führen.
Bewältigung der langsamen Verarbeitungsgeschwindigkeit
Ein besseres Verständnis des Problems ist äußerst hilfreich bei der Bewältigung von SPS. Wenn man weiß, dass etwas länger dauert, ist es nicht so frustrierend, wenn es tatsächlich länger dauert. Die häufigste Strategie besteht darin, den Kindern mehr Zeit für die Erledigung von Aufgaben zu geben. Es ist auch wichtig herauszufinden, ob Ihr Kind eine zusätzliche Behinderung hat, wie z. B. ADHS oder Angstzustände, da Sie die Behandlungsmöglichkeiten für andere Erkrankungen maximieren möchten. Viele Kinder kommen für eine Unterstützung im Rahmen eines IEP oder 504-Plans in Frage. Zu den besten Strategien gehören:
1. Kluger Einsatz von Technologie, wobei zu bedenken ist, dass das, was bei einem Kind funktioniert, bei einem anderen vielleicht nicht funktioniert. Viele Kinder mit SPS profitieren von Diktiersoftware, Text-to-Speech-Software und Telefon-Apps, die beim Zeitmanagement helfen.
2. Planen Sie Pausenzeiten in den Tag ein. Mehrere Pausen sind gut für Kinder mit SPS, um sich zu erholen und ihre Konzentration aufrechtzuerhalten.
3. Geben Sie ausreichend Zeit für die Erledigung von Aufgaben und Tests.
4. Geben Sie fertige Modelle für längere Aufgaben mit eindeutigen Anfangs- und Endpunkten für Aufgaben.
5. Lehren Sie Zeitmanagement und Zeiteinteilung. Das Konzept der Zeit ist für diese Kinder schwer zu erlernen.
6. Bieten Sie Unterstützung bei Aufgaben wie dem Schreiben von Notizen an.
Eine der wichtigsten Rollen der Eltern ist es, sich für ein Kind einzusetzen. Vielleicht müssen Sie dem Schulpersonal das SPS erklären. In diesem Fall sollten Sie die Schule als Kooperationspartner betrachten. Letztendlich möchten Sie, dass Ihr Kind für sich selbst eintritt. Geben Sie ihm Informationen über seinen Lernstil und die richtigen Worte, um ihn zu erklären.
Mit langsamer Verarbeitungsgeschwindigkeit zu Hause umgehen
Das Leben zu Hause kann für Eltern von Kindern mit SPS stressig sein. Sie fühlen sich vielleicht überfordert und sind verzweifelt. Außerdem treten diese Probleme häufig in der Familie auf, so dass es Ihnen schwer fallen könnte, die Dinge zu erledigen. Vielleicht sind Sie aber auch das Gegenteil – eine schnelllebige Mutter mit einem langsamer lebenden Kind. Es ist gut zu wissen, welche Rolle Ihre eigene Verarbeitungsgeschwindigkeit in der Familiendynamik spielt.
Meine Forschungen haben ergeben, dass die Verarbeitungsgeschwindigkeit ein wichtiges Thema im Haushalt ist. Je langsamer die Verarbeitungsgeschwindigkeit, desto mehr Probleme werden bei der Erledigung von Hausarbeiten und im täglichen Leben berichtet. Wenn Kinder mit langsamer Verarbeitungsgeschwindigkeit über die Familie sprechen, berichten sie oft über negativere Beziehungen zu ihren Eltern, und zwar in statistisch höherem Maße als ihre Altersgenossen. All diese Schwierigkeiten wirken sich auf das Familienleben aus.
Was können Eltern also tun? Es ist wichtig, herauszufinden, wo die Probleme auftreten. In meiner Praxis beziehen sich die häufigsten Beschwerden auf die Erledigung der Hausaufgaben. Es ist wichtig, mit der Schule zusammenzuarbeiten, um herauszufinden, wie man das Problem lösen kann. Zu den Strategien kann es gehören, die Menge der Hausaufgaben zu verringern oder eine bestimmte Zeit einzuhalten, unabhängig davon, was erledigt wird. Andere hilfreiche Strategien sind:
1. Seien Sie effizienter, indem Sie Dinge am gleichen Ort aufbewahren und Routinen auf die gleiche Weise erledigen.
2. Ändern Sie die Art und Weise, wie Sie zu Hause sprechen, indem Sie langsamer werden und Anweisungen in kleineren Schritten geben.
3. Bringen Sie Ihrem Kind das Konzept der Zeit bei und wie es mit dem Zeitmanagement zusammenhängt. Bringen Sie Ihrem Kind bei, eine analoge Uhr zu lesen.
Ein Kind mit einer langsamen Verarbeitungsgeschwindigkeit zu haben, ist manchmal belastend, aber es ist wichtig, daran zu denken, dass Ihr Kind härter arbeitet, um mitzuhalten, als Kinder, die eine schnellere Verarbeitungsgeschwindigkeit haben. Ihr Kind hat auch Ihnen viel zu bieten. In einer Welt, die sich scheinbar zu schnell bewegt, als dass wir sie genießen könnten, kann es uns lehren, wie wichtig es ist, sich mehr Zeit zu nehmen. Diese Kinder kommen gut mit Aufgaben zurecht, die tiefes, langsameres Denken erfordern. Die Wertschätzung dieses Aspekts ihrer Persönlichkeit wird ihnen und uns allen zugute kommen.
Ellen Braaten, Ph.D., ist außerordentliche Professorin an der Harvard Medical School und Leiterin des Learning and Emotional Assessment Program am Massachusetts General Hospital. Sie ist die Autorin von Bright Kids Who Can’t Keep Up.
Aktualisiert am 22. März 2021